...und sich in Frage stellen
Sind wir abgeschweift? Ja und nein. Wir sind immer noch beim Schreiben.
Wenn Du Worte und Sätze behende drechseln kannst, so gibt es immer noch die Frage, von wo aus Du beschreibst. Wo, wie ist der Standpunkt?
Mein Pate war der zweieiige Zwillingsbruders meines Vaters, ein eleganter, grosser, dünner Kettenraucher, intuitiver Psychiater in einer Irrenanstalt für schwerste Fälle, gewohnt mit den absurdesten Symptomen, Fantasien und Träumen umzugehen, mit einer Selbstverständlichkeit wie wir übers Wetter reden. In seiner Tätigkeit war mit "normalem" Denken oft nicht weiterzukommen. So suchte er das Paradox, den Gegensatz, das Absurde, das Verdrängte, das Vergessene. Dazu gab es Techniken, wie das Befragen der Träume, aber er wusste auch Tarot-Karten zu legen und mit den Tintenklecksen des Rohrschach-Testes zu arbeiten.
Eine solche Technik war "Den Feind fragen": Wenn das eigene Repertoire nicht ausreichte, um ein Problem anzugehen konnte vielleicht einem völlig gegensätzlichen Menschen
noch etwas einfallen. Er illustrierte das mit folgender einfacher Geschichte: Als seine blitzgescheite Tochter wenige Jahre alt war, setzte sie sich in den Kopf, nichts mehr essen zu wollen und hielt das in bedrohlichem Ausmass durch. Alles Zureden, wie "Du musst doch essen, sonst wirst Du noch krank etc" fruchtete nichts, Vater, Mutter, Kinderarzt, Grosseltern und Tanten wussten keinen Ausweg. In dieser Situation wandte er sich an seinen damaligen "Feind" in der Klinik, den internmedizinischen Arzt, der ihm wegen seiner mechanistischen Ansichten eigentlich zuwider war. Dessen Rat: Man dürfe dem Kind nicht mehr sagen, dass es mit Nichtessen krank werde, sondern man müsse ihm im Gegenteil sagen, dass es schwer krank sei. Es dürfe nur kleinste Mengen Zwieback und Tee einnehmen, und Zusätzliches dürfe nur langsam und in kleinsten Schritten aufgebaut werden. Die kleine, blitzgescheite Tochter sah sich plötzlich mit grosser Befriedigung im Recht und im Mittelpunkt, befolgte das Regime mit Interesse und Ernsthaftigkeit, wurde dessen aber bald überdrüssig, wie sie mir selber erzählt hat. So wurde das Problem gelöst.
Der Wechsel oder die Erweiterung des Standpunktes kann auf verschiedene Weise ereicht werden, im Gespräch, mit Lesen, mit Traumarbeit oder auch mit Reisen, man muss nur bereit sein, bisherige Ansichten in Frage zu stellen und offen für das Unerwartete: Wer z.B. in Russland die fast mystische Verehrung der Menschen für ihren Putin erlebt hat muss sich fragen, ob wir mit dem Bild, das uns unsere Mainstream-Medien täglich einreden wirklich im Besitz der ganzen Wahrheit sind.
Richtig, das hat mit Schreiben an sich nichts zu tun, aber mit Sehen, mit Be-schreiben, mit Einordnen, mit Aussage und mit Wahrheit.