Flucht als Haltung
In dieser Schule musste man sich die neuere Europäische Geschichte selber zurechtlegen. Mit 16 war ich einige Wochen zu Besuch bei meinem Paten, der Irrenarzt in einer geschlossenen Anstalt war. Auf die Frage nach anregender Lektüre gab er mir Curzio Malaparte's "Kaputt" in die Hand - drastische Kriegsreportagen von der Ostfront, welche mir schlaflose Nächte bereiteten und meine Weltsicht nachhaltig veränderten. Churchills Bericht über den zweiten Weltkrieg ackerte ich in der gekürzten Fassung durch, auf Englisch, mühsam mit dem Wörterbuch: Da schrieb ein Sprachmeister, der sich völlig in der Tradition Ciceros und Cäsars wusste und der doch mächtig gewirkt hatte im Hier und Jetzt. Oder ich entdeckte, wie Le Bons "Psychologie der Massen" (1895) gewisse Vorgänge im Dritten Reich verständlicher machte. Alle diese Themen hätten wir mit brennendem Eifer aufgesogen, wenn sie uns die Schule nur vorgeworfen hätte. Warum wurde dieser Teil der Geschichte ausgeblendet?
Ich habe den Verdacht, dass das Ausblenden daher kam, weil diese neuere Geschichte den Todesstoss für das Humanistische Gymnasium bedeutete. Der Hitlerismus hatte ja die humanistische Bildung ad absurdum geführt, denn die Eliten - alle die Richter die
Recht bogen (Freisler, Bildmitte mit Hitlerguss vor Hakenkreuz und Hitlerbüste), alle die Ärzte die Qual und Tod säten (Mengele) - waren Produkte dieser Bildung, deren Untauglichkeit und mögliche Verlogenheit inzwischen durch die Gaskammern und die Massengräber entlarvt war.
Wer sich dagegen in Konzentrationslagern unter höchstem Druck noch am ehesten anständig aufgeführt hatte waren Kommunisten oder extreme Christen, welch beide mit Latein und Griechisch wenig oder nichts am Hut hatten. Deshalb glaubten wir schon vor sechzig Jahren kein Wort mehr über solchen Humanismus, der uns mehr einer mit Schöngeist übertünchten Bequemlichkeit zu entsprechen schien. Mittlerweile scheint das Publikum diesem Bildungskanon vollends davonzulaufen.
Aber Grundtendenzen werden nicht so rasch verschwinden. Überlebt die Flucht als Haltung, die mit Schöngeist übertünchte Bequemlichkeit vielleicht in anderer Form? Bei Regierungen vielleicht, oder in Medien, die Probleme schönreden und gleichzeitig denjenigen, welche Probleme dennoch benennen die Diskussion verweigern und sie verunglimpfen?
Ob Flucht wirklich die einzige Alternative sei, wollen wir im nächsten Beitrag untersuchen.